Kolumne Achtsamkeit im Alltag von Heike Wagner
Eine Bekannte, die in der Krankenpflege arbeitet, traf es schon sehr früh: Corona. Die Infektion mit Covid19 als Berufsrisiko. Glücklicherweise überstand sie es bald und konnte sich über einen milden Verlauf freuen. Aber etwas blieb und begleitete sie noch eine ganze Weile: Sie konnte weder riechen noch schmecken. Das Essen wurde zur Pflichtübung ohne Freude, ohne Lustgewinn. Bei allem, was Corona anrichten kann, erschien das zunächst als lässige, wenngleich lästige Kleinigkeit. Mit der Zeit jedoch als arge Einschränkung im Alltag. Was für ein Genuss, wenn beides nach und nach zurückkehrt!
Wie wichtig doch allein der Geruchssinn ist, der uns förmlich durch den Alltag navigiert: Die Wurstscheibe riecht schon merkwürdig; lieber wegwerfen. Der Küchenmüll in der Sommerhitze ebenfalls; den Eimer besser leeren. Liegt da nicht Brandgeruch in der Luft, der Beachtung verlangt? Allerlei kleine sinn-liche Warnungen.
Oder die anderen Gerüche, die freudvollen: der Lavendelbusch am Zaun, die neue Honigseife, das frisch geputzte Bad … Oder die, die schon den kommenden Geschmack vorhersagen: Knoblauchduft vom Herd, das mitgekochte Lorbeerblatt, Herzhaftes aus der Pfanne. So selbstverständlich – und eben doch nicht. Sind Sinne gestört, wird alles scheinbar sinn-los.
Wie halten wir es gewöhnlich damit? Haben wir unsere Sinne beisammen, wenn wir manchmal eher durch den Alltag stolpern – ob mit oder ohne Corona? Wissen wir, was wir erleben, während wir es erleben? Bei Sinnen sein, zur Be-sinnung kommen, sinn-voll handeln: Wäre im Alltag nicht schlecht, oder?
Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, wie Sie einen besonders schön glatten Gegenstand unbedingt in die Hand nehmen und be-greifen mussten? So einen Handschmeichler. In einem Museum vielleicht, wo das Berühren streng verboten ist. Vor einiger Zeit führte mich ein vor der Tür aufgestellter Reiter in einen Kirchenraum hinein – mitten im Getümmel der Stadt. Obwohl ich doch eigentlich ins Kaufhaus wollte. Anfassen erwünscht! hieß es auf dem Schild. Es lud in eine Ausstellung mit Holz- Skulpturen zum Befassen des Bildhauers Walter Green. Herrlich anzusehen, inspirierend und ein nicht enden wollendes Fühlfeld. Diese abgezweigte halbe Stunde: ein im wahrsten Sinne sinnlicher und sinnvoller Genuss!
Und wieder Corona: Wie schmerzhaft es doch ist, die, die uns lieb sind, nicht immer und überall einfach in den Arm zu nehmen, fest zu drücken, tief zu fühlen. Berühren, berührt werden, auch dafür haben wir einen Sinn. Und wir vermissen diese Erfahrung in Abstand-Zeiten. Umso wichtiger ist es vielleicht gerade jetzt, unseren Sinnen „Futter“ zu geben und wach zu sein, für den Reichtum, der darin steckt.
Ein häuslicher Achtsamkeits-Tag in Corona-Zeiten beflügelte eine Teilnehmerin, Ihr sonntägliches Lauftraining einmal ganz bei Sinnen zu erleben. Anders als sonst blieb der Kopfhörer zu Hause und damit die Musik. Erstaunt, ja fast beglückt, konnte sie erstmals ihre eigenen Schritte hören, das Gleichmaß im Lauf, der wechselnd klingende Untergrund. Eine völlig neue Laufmusik. Und ganz nebenbei öffneten sich auch die anderen Sinne. Sehen, spüren, riechen … die vertraute Strecke ganz neu erlebt und erlaufen.
Solche großen und kleinen Sensationen, die wünsche ich Ihnen an jedem Tag – ob mit oder ohne Corona. Bei Sinnen, geerdet und im Gleichgewicht.